Bei der Frage, wie mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in der Institution Psychologie umgegangen wird, muss vor allem die Institution selbst und ihre Beschaffenheit in den Blick genommen werden.
Bei der Frage, wie mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in der Institution Psychologie umgegangen wird, muss vor allem die Institution selbst und ihre Beschaffenheit in den Blick genommen werden.
Der Diskurs über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Bereich der psychischen Gesundheit in Palästina enthüllt eine schwerwiegende Krise – treffen hier doch gleich zwei große Themenkomplexe aufeinander, die jeweils mit ihren ganz eigenen Herausforderungen und Schwierigkeiten behaftet sind.
Das Konzept psychischer Gesundheit befindet sich in Palästina noch in einer frühen Entwicklungsphase und ist weder ausreichend institutionalisiert noch in der Gesellschaft sonderlich respektiert. Dem Palestinian Counseling Center zufolge nutzen nur wenige Menschen psychotherapeutische Dienste oder wissen gar von ihrer Existenz. Gleiches gilt für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, ein Thema, das in der palästinensischen Gesellschaft geradezu als Tabu gilt und dem sich ein hohes Maß an Unwissenheit, Unterdrückung und sogar Abneigung entgegenstemmt. In beiden Bereichen gab es in den letzten Jahren jedoch auch Fortschritt und Wandel.
Bei der Frage, wie mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in der Institution Psychologie umgegangen wird, muss vor allem die Institution selbst und ihre Beschaffenheit in den Blick genommen werden. Die Psychologin und Therapeutin Fidaa Alyan stellt nach zwei Jahren Arbeit in ihrem Beruf das System der Psychologie als solches in Frage, das einengend sei wie die gesamte Institution der Wissenschaft.
Die überwiegende Mehrheit der Ansätze psychologischer Beratung und Therapie basiere auf dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen DSM-5 (nachfolgend „DSM“ genannt) der American Psychiatric Association, das in seinem Wesen jedoch allein der Ausübung von Kontrolle diene. So müsse der Patient eingeordnet werden – einer bestimmten Kategorie, Störung, einem Eintrag. Dies arte in einen regelrechten „Diagnose-Wahn“ aus.
Alyan erklärt diesen Punkt genauer: „Die Diagnose ist zweifellos wichtig für die Behandlung, denn durch sie werden die besten und geeignetsten Interventionen für den/die Patienten/Patientin bestimmt. Doch hier herrscht ein immer größer werdender Wahn, der vielleicht mehr einer institutionellen als therapeutischen Notwendigkeit entspringt. Er weckt Zweifel und Argwohn und schränkt die Fähigkeit beider Seiten, der Beratenden und der Ratsuchenden, darin ein, tiefere, wichtigere Fragen zu beleuchten, die ihm/ihr helfen können, dem eigenen Selbstverständnis so nahe wie möglich zu kommen.“
Die Verantwortung oder „Schuld“ sieht sie jedoch nicht bei den Fachleuten, sondern im weiteren System. „Die Angst der BeraterInnen davor, ihre Tätigkeit ohne Diagnostik auszuführen, ist natürlich berechtigt und real und kein Hirngespinst. Stattdessen muss das Bildungs- und Berufssystem der Psychologie betrachtet werden, in dessen Verfahren und Anwendungen das Wesen menschlichen Strebens zu wenig berücksichtigt wird und das Studierende und Arbeitende des Fachs nicht beschützt. Hier liegt das wahre Problem“.
Die Jagd nach Diagnosen, von der Alyan spricht, führt uns auch zu Themen wie Homosexualität und Geschlechtsidentität und von dort zu den enormen Veränderungen, die die Psychologie seit ihrer Entstehung und Institutionalisierung als moderne Wissenschaft durchlaufen hat. Von 1952 bis 1974, also 22 Jahre lang, wurde Homosexualität im DSM der American Psychiatric Association als psychische Störung kategorisiert.
Mit dem Thema Transsexualität gingen Ärzte und Psychologen jahrzehntelang sehr widersprüchlich um, bis man im Jahr 1980 der Geschlechtsidentität einen Platz in der dritten Edition des DSM unter der Bezeichnung „gender identity disorder“ (Geschlechtsidentitätsstörung) einräumte. Wenngleich die Kategorisierung manchen transsexuellen Menschen half, lud sie dennoch dazu ein, mit Transsexualität und Transidentität umzugehen, als handele es sich dabei um psychische Erkrankungen, sodass die Bezeichnung 2013 aus dem DSM entfernt wurde.
Die Präsenz des Themas sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in den verschiedenen Bereichen der Psychologie und psychologischen Gesundheit an Palästinas Universitäten legt viel über dessen Status und Schwierigkeiten offen. Von der Birzeit-Universität, zum Beispiel, berichtet Psychologiedozentin Fardous Salameh, dass Themen wie Sexualität, Gender und Diversity in den Kursen mit Ignoranz und Zurückweisung begegnet werde. Es gebe lediglich eine Lehreinheit zur Entwicklung sexueller und geschlechtlicher Identität im Rahmen des Seminars „Evolutionäre Psychologie“.
Aus ihrer Erfahrung als Seminarleiterin und Fürsprecherin der Einbeziehung sexualitätsrelevanter Inhalte in die Kurse und Lehrpläne des Studiengangs berichtet Salameh, dass Umgang und Reaktionen unter Studenten wie auch Lehrenden noch immer stark schwankten. Selbst Studenten mit Hauptfach Psychologie lehnten es manchmal ab, sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen, bezeichneten diese Aspekte der Wissenschaft als „Lügen und verzerrte Fakten“ und argumentierten mit religiösen oder sogar mit vermeintlich wissenschaftlichen Vorwänden dagegen. Andere wiederum äußerten den Wunsch, mehr darüber zu erfahren – auch wenn sie angäben, Schwierigkeiten bei der Beschäftigung mit dem Thema zu haben.
„Vor fünf Jahren noch war es für uns kaum denkbar, auch nur einen Workshop zu Konzepten von Sexualität durchzusetzen.“
Salameh erklärt, dass einige ihrer KollegInnen den progressiven Inhalten, die sie versuche einzuführen, zwar nicht zustimmten, dies aber nicht öffentlich kundtaten. Mit dieser Haltung vermieden sie es, den gänzlichen Ausschluss der Themen zu unterstützen.
Auch wenn noch zahlreiche Schwierigkeiten zu bewältigen und viel mehr Anstrengungen nötig seien, betont Salameh, sei der Fortschritt, den man in dieser Sache gemacht habe, doch spürbar und offensichtlich: „Vor fünf Jahren noch war es für uns zum Beispiel kaum denkbar, auch nur einen Workshop zu Konzepten der Sexualität durchzusetzen. Wir wurden bei dem Thema von mehreren Seiten der Universität genau geprüft. Heute haben wir relativ viel Freiheit, um über Themen wie Geschlechtsidentität und Homosexualität zu sprechen und dazu sogar Übungen abzuhalten.“
Zakia Zeita, Masterstudentin im Fach psychische Gesundheit an der al-Quds Universität – Abu Dis, hat für ihre Abschlussarbeit das Thema „Schwierigkeiten homosexueller Menschen in der palästinensischen Gesellschaft“ ausgewählt. Bislang sei diese Problematik nicht im Kontext Palästinas diskutiert worden, weshalb auch ihre Betreuerin an der Uni gewillt war, dem Forschungsthema zuzustimmen, wie Zakia erklärt.
Die Psychologiestudentin berichtet, dass die größte Schwierigkeit bei der Forschung zu diesem Thema im Mangel an seriösen, aktuellen Quellen in arabischer Sprache liege. Die Mehrheit der Quellen sei veraltetet und beriefe sich ihrerseits auf alte westliche Arbeiten, die von modernen Studien und Forschungen inzwischen überholt worden seien. Außerdem sei das Thema kein fester Bestandteil des offiziellen Studienlehrplans. Vielmehr werde es „ganz beiläufig behandelt. Es gibt keinen Kurs oder wenigstens eine Einheit, die ihm gewidmet ist. Ich persönlich kam das erste Mal in einem Kurs von alQaws for Sexual & Gender Diversity in Palestinian Society mit dem Thema in Berührung“.
AlQaws arbeitet schon seit mehr als 15 Jahren zu Fragen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt und will dahingehend ein Umdenken und mehr Offenheit in der Gesellschaft bewirken, besonders auf dem Gebiet der Psychologie. Zusätzlich zu Trainingskursen, die alQaws psychologischen und therapeutischen Institutionen zum Kapazitätsaufbau anbietet, organisiert die Einrichtung jedes Jahr Beratungsgruppen für Spezialisten auf dem Gebiet der Psychotherapie. Wie die Organisation erklärt, sollen die TeilnehmerInnen einerseits in ihrem Wissen und Bewusstsein für relevante Fragen gestärkt werden und andererseits dieses Wissen in ihren Fach- bzw. Einflusskreisen weiterverbreiten.
Eine der wichtigsten Errungenschaften von alQaws ist die Publikation einer Fachbroschüre mit dem Titel „Einführung in Fragen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt für Fachleute auf den Gebieten psychische Gesundheit und Community Health“. Der im Februar 2018 erschienene Ratgeber informiert Fachleute, wie bei Personen mit einer nicht-binären Geschlechtsidentität psychologische Interventionen und soziale Leistungen aussehen können. Auf 90 Seiten werden relevante Themen wie Entwicklung der geschlechtlichen und homosexuellen Identität, familiärer Umgang sowie häusliche und gesellschaftliche Gewalt angesprochen und Ratschläge für die Arbeitspraxis von Psychologen und Beratern gegeben.
Dr. Fathi Fleifel, Leiter des Psychological Health Resource Centers der Rothalbmond-Gesellschaft Palästina und Mitglied des Fachausschusses, der die Redaktion der Broschüre begleitetet hat, betont die Bedeutung des Ratgeberhefts. Seine Veröffentlichung sei ein wichtiger Schritt dahin ein Umfeld zu schaffen, in dem eine kritische und professionelle Auseinandersetzung der Psychologie mit diesen Fragen möglich ist. Vier ExpertInnen mit Erfahrung in Palästina hätten den Redaktionsprozess betreut und ihre ganz individuelle Expertise eingebracht, wie zum Beispiel in den Bereichen der Kunsttherapie, klinischen Psychotherapie und pädagogisch-psychologischen Beratung.
Interessant sei es gewesen zu sehen, wie die Meinungen bei manchen Fragen je nach universitärem, theoretischem und kulturellem Hintergrund auseinandergingen, sogar bei sprachlichen Aspekten und Terminologie, sagt Dr. Fleifel. Das habe die Broschüre am Ende bereichert und vielfältiger gemacht. So sei zum Beispiel das Interesse der Psychologin Yoa’d Ghanadry-Hakim am Thema Verlust in den Abschnitt über die Entwicklung der homosexuellen Identität und das dabei mögliche Aufkommen eines Verlustgefühls eingeflossen.
Viele Diskussionen hätten in Verbindung zum weiteren Rahmen der psychischen Gesundheit und Therapie in Palästina– wenn nicht sogar in der arabischen Welt – gestanden, berichtet Dr. Fleifel. Ein besonders großes Defizit auf dem Fachgebiet gebe es bei der Verwendung von Terminologie und Konzepten, beziehungsweise der dahingehend fehlenden Standardisierung. „Geschlechtsdysphorie“ sei nur einer von zahlreichen Fachbegriffen gewesen, die während der Arbeit an der Broschüre diskutiert werden mussten. Hier schwankten die Übersetzungen zwischen geschlechtlichem „Unbehagen“ über eine „Diskrepanz“ bis hin zur „Entfremdung“. Der Fachausschuss habe sich am Ende auf letztere Variante geeinigt, da er allen Mitgliedern der Charakterisierung des Zustandes am ähnlichsten zu kommen schien.
Am Ende muss eine Feststellung stehen, die nicht fern vom Ausgangspunkt dieses Artikels liegt: Zweifellos sind Fortschritte und Anstrengungen zur Integration von Fragen sexueller und geschlechtlicher Vielfalt auf dem Gebiet der Psychologie unbedingt notwendig. Trotz aller Herausforderungen und Schwierigkeiten dürfen Fachkräfte keine Mühen und Energien scheuen um am Ende ein Behandlungsumfeld zu schaffen, das Freundlichkeit und Empathie ausstrahlt, eine Wissenschaft zu fördern, die kritische und fundierte psychologische Forschung ermöglicht, und Fach- und Arbeitsbereiche zu gestalten, die den Anforderungen und Verantwortungen der Psychologie gerecht werden.
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