Der Begriff „queer“ steht für Irritation, für einen Bruch mit der Norm, für die Gegenposition zum Vorherrschenden. Eine queere Frau erzählt.
Übersetzt aus dem Arabischen von Daniel Falk
In der Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, befinde ich mich an der Peripherie, da ich mich selbst als queere Frau definiere. Da ich mir diese periphere Lage mit anderen Frauen teile, habe ich begonnen, Überlegungen zu unserer peripheren Position und den daraus resultierenden unterschiedlichen Formen der Repression anzustellen. Eine Repression, die sich in verschiedenen Formen äußert: angefangen bei einem vordefinierten Lebensstil, den ich anzustreben und erfolgreich zu verwirklichen habe, über Werte und Vorstellungen, die meine Selbstwahrnehmung und die Wahrnehmung meines begrenzten Handlungsspielraums prägen, bis hin zu zahlreichen Entscheidungen, die ich tagtäglich treffe. Mal geht es um die Unterwerfung unter die Regeln des Systems, mal befinde ich mich im Widerstand zu diesen Regeln.
Stets beschäftigt mich die Furcht des gesellschaftlichen Systems vor Diversität und Pluralität. Ich versuche, die Erscheinungsformen dieser Furcht und die sich aus ihr ergebenden Strategien zu erforschen. Diese Strategien werden mit dem Ziel verfolgt, die Individuen innerhalb vordefinierter und anerkannter Stereotype zu erziehen und korrigierend einzugreifen, wenn sie versuchen, sich diesen Stereotypen zu entziehen.
Queer ist ein Raum der Spannung und Abweichung
Auf der anderen Seite stehen wir queere Personen mit unseren atypischen und nicht-heterosexuellen Identitäten und Neigungen. Wir weichen durch unsere multiplen und zusammengesetzten Identitäten vom sogenannten „Üblichen“ ab und präsentieren kein festes und erwartetes Bild. Wir sind der „Defekt“ in einer veralteten, brüchigen Maschinerie. Einer Maschinerie voller tradierter sozialer Vorstellungen und Rollenbilder, die über Generationen entstanden sind und die nur selten infrage gestellt werden oder deren Nutzen für unser Leben nur selten hinterfragt wird. Wenn aber eine*r von uns sie infrage stellt oder sich als ein Defekt in dieser Maschinerie zu Erkennen zeigt, verbünden sich alle repressiven Kräfte, um mithilfe ihrer unterschiedlichen Kanäle und Instrumente gegenzusteuern: Dazu gehören die religiösen Institutionen, die Gesellschaft, die Familie, das politische System und das Bildungswesen. All diese Kräfte arbeiten mit vollem Einsatz daran, den empfundenen Defekt zu beheben, egal auf wessen Kosten, damit die Institution der Moral und der öffentlichen Sitten unter dem Schirm des heteropatriarchalen Systems gewahrt bleibt.
Wie definieren wir unsere Identität?
Der Begriff „queer“ umfasst alles, was nicht zum Mainstream gehört. Er nimmt die Gegenposition zu dem Vorherrschenden ein und steht für die Störung der hegemonialen sozialen Stabilität. Queer bedeutet wörtlich alles, was „nicht gewohnt“ oder „fremd“ ist. Der Begriff wurde gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts zur Stigmatisierung nicht-heterosexueller Minderheiten verwendet. Später, gegen Ende der 1980er‑ und 1990er‑Jahre, wurde der Begriff zurückerobert und neu geprägt. Er diente der Selbstbezeichnung seitens der Angehörigen der LGBT-Community. Diese Rückgewinnung des Begriffes „queer“ ist ein politischer Akt, der einen historischen, sozialen und autoritären Kontext ebenso infrage stellt wie ein heteronormatives System, das die Prägung von Definitionen und die kulturelle Deutung alles „Fremden oder Andersartigen“ kontrolliert.
Trotz meiner Existenz an der Peripherie gibt mir eben diese einen weiten Handlungsspielraum und ermöglicht mir weitere Entdeckungen und Selbsterkenntnisse. Meine randständige Position öffnet mir die Augen für nicht-stereotype Entscheidungsmöglichkeiten und für Wege, die ich begehen kann.
Viele Wege zu einem Ziel
In meinem oder ähnlichen sozialen Kontexten spielen die religiösen Autoritäten eine große Rolle dabei, soziale Regeln des normierten Geschlechterverhaltens zu verankern und die Familie als prioritäreren Raum zu schützen und zu reproduzieren. Das sehen wir beispielsweise in dem 2013 erschienenen Dokument der Al-Azhar über die Frauenrechte: „Die Familie ist Grundlage und elementarer Bestandteil der Gesellschaft, sie ist vertragliche und materielle wie ideelle Entität. Es müssen sämtliche Maßnahmen zur Stützung oder Wahrung dieser Entität getroffen werden. Die Familie ist eine vertragliche Entität, da sie eine willentlich eingegangene und einvernehmlich entstandene Beziehung darstellt und entweder einvernehmlich oder per Richterbeschluss mit oder ohne Entschädigung endet. Mann und Frau haben dabei die gleiche Willensfreiheit bei der Gründung und Beendigung der Familie persönlich oder durch Bevollmächtigung. Gott der Erhabene hat dem Mann den Unterhalt der Familie zur Pflicht gemacht, da die Frau ihrer natürlichen Rolle beim Gebären und Erziehen der Kinder nachkommt. Der Unterhalt ist das Recht von Frau und Kind und Pflicht des Mannes.“
Der zitierte Text sieht die „natürliche Rolle der Frau“ im Gebären und Erziehen der Kinder und die Rolle des Mannes in Unterhalt und Broterwerb für Frau und Kinder. Die Verwendung von Begriffen wie „natürlich“ oder „natürliche Veranlagung“ dient dazu, Kritik oder das Infragestellen des Wesens oder Nutzens dieser „natürlichen“ Rollen sowohl von Frauen als auch von Männern zu verhindern. In diesem Bestreben wirken die unterschiedlichen Kräfte der Macht zusammen, um die Existenz und den Fortbestand der Institution der heterosexuellen Familie zu bewahren. In Artikel 10 der ägyptischen Verfassung heißt es: „Die Familie ist die Stütze der Gesellschaft“ und der Staat verbürgt sich, „der Frau die Vereinbarung von familiären Pflichten mit den Erfordernissen der Arbeit zu ermöglichen“. Hier sehen wir, dass die ägyptische Verfassung die gebärende Rolle der Frauen an die erste Stelle ihrer Pflichten stellt.
In diesem Zusammenhang sagte Silvia Federici in ihrem Artikel „Lohn für Hausarbeit“: „Wir müssen erkennen, dass der Kapitalismus enorm erfolgreich darin war, die Hausarbeit zu verzerren. Er hat einen wahren Schatz auf Kosten der Frauen erschaffen. Indem er die Hausarbeit als eine der Liebe entspringende Tätigkeit stilisierte, nahm er den Hausfrauen das Recht auf Lohn für ihre Arbeit. Auf diese Weise wurden zahlreiche Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Denn es bedeutete zunächst einmal den Gewinn einer gewaltigen Menge an kostenloser Arbeit und bedeutete gleichzeitig, dass die Frau enthusiastisch danach strebte, die Hausarbeit zu erledigen, als sei es das Beste, was sie im Leben tun würde (Zauberwort: ‚Ja, Liebling, du bist eine echte Frau‘).“ So spielt das kapitalistische System eine große Rolle bei der Unterdrückung der Frauen, weil es die von den Frauen verrichtete unbezahlte Hausarbeit nicht anerkennt.
In der Anfangszeit des industriellen Kapitalismus bekämpfte das kapitalistische System die traditionelle Familie. Bald aber verstand das System die Bedeutung jener Kernfamilie für die Reproduktion der Arbeiterklasse und in der Folge für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Akkumulation. Auf dieser Grundlage wurden die Rollen innerhalb der Kernfamilie so aufgeteilt, dass sie den kapitalistischen Interessen dienten. Die Hauptaufgabe der Männer bestand in der Ernährung der Familie durch Eintritt in die Produktionsarbeit und die Hauptaufgabe der Frauen wurde es, die Kinder zu erziehen und die Hausarbeit zu verrichten, also Tätigkeiten der Reproduktion zu übernehmen. Der Kapitalismus betrachtete die reproduktive Arbeit der Frauen als einsetzbare Ressourcen, statt dass das System die Erziehung der Kinder mittels Kindergärten und Kindertagesstätten übernimmt. Um diese Kosten zu vermeiden, wurden die traditionellen ideologischen Narrative aus den religiösen Texten zur Unterstützung herangezogen und durch die Medien verbreitet. Sie sollten den sakralen Charakter der Mutterschaft perpetuieren und den Glauben der Frauen an ihre natürliche Rolle in der Familie erhalten.
Mit der Weiterentwicklung des Kapitalismus verlor die Familie an Bedeutung. Als Folge der Wirtschaftskrise begannen viele Frauen zu arbeiten. Allerdings blieben die durch das System verbreiteten Narrative von der natürlichen Rolle der Frauen bestehen, da „Der Glaube der Frau, dass die von ihr ausgeübte soziale Rolle ihre natürliche Pflicht und Arbeit sei, dazu führte, dass sie Arbeit außerhalb des Haushalts zu im Vergleich zu Männern geringeren Löhnen akzeptierte.“
So gelang es dem kapitalistischen System, die implizite Zustimmung der Frauen zu erreichen. Dies gelang durch Einsatz von Instrumenten, die das vorherrschende Bewusstsein in der Gesellschaft verstärken, wie etwa die Medien oder die Bildung. Dieses Bewusstsein konstruiert ein Frauenbild mit einer klar definierten, femininen Existenz und einer untergeordneten Rolle. Das kapitalistische System verankert die Idee, es sei die Hauptaufgabe der Frau, eine Familie zu gründen und zu pflegen. Dadurch wird es zum obersten Lebensziel von Frauen, einen Ehemann zu finden, zu gebären und die Kinder zu erziehen – all dies als Ausdruck der höchsten und für jede Frau vorgesehenen Aufgabe.
Dabei überlagern sich Formen der Unterdrückung und der verschiedenen Interessen der unterschiedlichen Institutionen der Macht mit einem gemeinsamen Ziel: präzise und befestigte Grenzen für unsere Identitäten zu ziehen, Grenzen, die diesen Interessen dienen.
Im Gegensatz zu den religiösen Institutionen und dem kapitalistischen System ist es die Gesellschaft selbst, die in unserer Lebensrealität unsere eigenen Narrative tiefgreifend dominiert und kontrolliert. Die kulturelle Herrschaft über unsere Körper zeigt sich zuerst im privaten und anschließend im öffentlichen Bereich, wie auch die Kontrolle unserer Verhaltensweise und der Art und Weise, wie wir unsere geschlechtliche Identität ausdrücken. Das betrifft alle unsere alltäglichen Entscheidungen im Großen wie im Kleinen. Beispielsweise berücksichtigen wir Frauen immer die Meinungen von Autoritätspersonen in unserem Leben, wie Mutter, Vater oder Hauswächter, wenn wir ein Stück Stoff wählen, das unsere gehorsamen Körper die meiste Zeit sowohl im öffentlichen Raum als auch im privaten Bereich bedeckt. Diese verschiedenen Arten der Unterdrückung der Frauen oder marginalisierter Identitäten basieren nicht auf beiläufigen, willkürlichen Entscheidungen, sondern sind Teil einer tief verwurzelten, institutionalisierten Ordnung, die Unterdrückung systematisch praktiziert.
Wie sehen wir uns selbst? Soziale Hegemonie und Machtbeziehungen
In einem hierarchischen System sind die Personen auf der höchsten sozialen Stufe diejenigen, die von der Reproduktion der Diskurse profitieren: Diskurse, die die vorherrschenden Klassifikationen und Definitionen unserer sozialen Identitäten festigen, um den Fortbestand der Hierarchie und ihre höchst privilegierte Position zu sichern. Diese Definitionen erscheinen meist als Status quo, der uns aufgezwungen wird. So geraten wir in einen inneren Konflikt zwischen den uns vorgegebenen Kategorien und Definitionen und den von uns selbst gewählten Kategorien. Ein Beispiel: Die klassifizierende Definition meiner Identität als muslimische, ägyptische Frau ist eine dominierte und normalisierte Definition, das heißt, die Gesellschaft sieht sie als „natürlich“ an. Dabei kann sich diese Definition vollkommen von meiner eigenen Vorstellung und Definition meiner Identität unterscheiden.
Meine persönliche Definition stellt die Dominanz über die Frau infrage und ist authentischer als die vordefinierten Stereotype meiner geschlechtlichen Identität, die kulturell und gesellschaftlich aufgezwungen werden. Diese Interpretation trifft auch auf andere Themen und Phänomene zu. Beispielsweise betrifft es die „Transphobie“, also die Angst vor transsexuellen Frauen und Männern aufgrund der Tatsache, dass diese Personen versuchen, eine ihnen – durch Individuen oder Institutionen – aufgezwungene geschlechtliche Identität zu verlassen und eine andere anzunehmen, die sie selbst definieren und bei der sie ihre Körper und Existenz selbst bestimmen können. Bei jedem Versuch, einer durch das patriarchalisch-kapitalistische System aufgezwungenen Kategorie zu entkommen, begegnen wir Unterdrückung, Marginalisierung und gesellschaftlicher Ablehnung.
Wer trifft die Entscheidung?
Michel Foucault versuchte, den Begriff der Macht in unserem täglichen Leben dadurch zu entschlüsseln, indem er die vielfachen Erscheinungsformen der Macht und ihre Beziehung zu unterschiedlichen Bereichen und Institutionen analysierte. Im Prozess des Machterhalts entscheidet sich, welche gesellschaftlichen Aspekte gestärkt, zur Norm erklärt, und letztlich zum System werden, und welche zu Widersprüchen deklariert werden, von denen man sich zu distanzieren hat. Die institutionalisierte Anwendung dieser Macht zeigt sich im Staatsapparat, durch die Formulierung von Gesetzen und in größerem Maße in der sozialen Hegemonie.
Die gesellschaftlichen Regeln und Bestimmungen beeinflussen unsere täglichen Entscheidungen. Denn wir sind nicht isoliert von der Umwelt und dem Leben, auch wenn wir einige Probleme der Unterdrückung und Marginalisierung erkennen, die auf unserer geschlechtlichen, ethnischen oder sozialen Identität oder unseren sexuellen Neigungen beruhen. Denn das ändert nicht notwendigerweise etwas. Wir versuchen, im Alltag aktiv zu handeln, angefangen bei unseren Entscheidungen über unsere Kleidung und den Ausdruck unserer Identität bis hin zu der Entscheidung, ob wir uns nicht verhüllen oder ob wir bunte Kleidung tragen. All unsere Versuche zielen darauf ab, Herrinnen über unsere Entscheidungen zu werden. Dies mag einigen Menschen als simpel erscheinen. In der Realität aber grenzt das aus mehreren Gründen ans Unmögliche, vor allem, weil sich das heteronormative System vor Pluralität und Diversität und vor der Existenz vielfältiger, ungewohnter Identitäten fürchtet. Niemandem bleiben die Reaktionen des Staates oder der Familie oder anderer patriarchaler Institutionen verborgen, wenn wir versuchen, eigene Entscheidungen zu treffen und unsere Identitäten zu zeigen. Diese Reaktionen bestehen in verstärkter Marginalisierung, in Repressionen und Schikane oder in vielen Fällen in Verfolgung, Bestrafung und Inhaftierung.
Stolz auf unser Anderssein
Oft leisten wir Widerstand und werden dann doch schwach. Wir kapitulieren und unterliegen im Laufe der Zeit den totalitären und institutionellen Kräften – einfach nur, um akzeptiert zu sein. Das ist in Ordnung, wenn unsere Position und unsere Stärke in diesem andauernden gesellschaftlichen Prozess erkennbar bleiben. Und wir dürfen den Moment nicht verpassen, der uns zeigt, dass unsere Position die schwächere ist. Außerdem versuchen wir, die Stereotypen zu verinnerlichen, um den gesellschaftlichen Machtzentren näher zu kommen und die heterosexuellen Privilegien zu genießen, die im Falle der Integration zur Verfügung stehen.
Bell Hooks sagte: „Das Anderssein ist dieses ungeschliffene, starke Band, aus dem wir unsere persönliche Kraft schöpfen.“ Meines Erachtens ist das Anderssein das, was die Hegemonie und die gewohnten, festen, einheitlichen Kategorien all dessen, was anders ist, infrage stellt: das heteropatriarchale und kapitalistische moralische System, ein einheitliches, hegemoniales System, dass weder Nachfragen noch Kritik oder Abweichung von ihm zulässt. Deshalb müssen wir nicht nur unser Anderssein annehmen, sondern wir müssen auch die Diversität und Pluralität in ihren zahlreichen Erscheinungsformen zurückerobern. Wir müssen die mit Diversität einhergehenden Definitionen und Bedeutungen wieder aufbrechen und unser Anderssein als Kraft für Veränderung und Widerstand betrachten.
„Aber, das ist die Welt, sie erstickt, wie kann die Welt atmen ohne ihre Peripherie?
Die Unberührbaren sind die Lunge des Lebens
Das Herz des Lebens ist die Peripherie“
Wadea Saada, Gedicht des Staubes
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