Wie wirkt sich der Verlust von Heimat, Sicherheit und Vertrautheit auf die Liebe aus? Wie auf unsere Gefühle und Beziehungen?
Übersetzt von Jana Duman
Vor nicht wenigen Jahren habe ich damit begonnen, mich – manchmal gemeinsam mit anderen – mit den Liebesbeziehungen zu beschäftigen, die während der Nakba im Jahr 1948 lebendig gewesen waren. Was ist aus ihnen geworden? Oder vielmehr, wie hat ein historisches Ereignis wie die Nakba und später im Jahr 1967 die Naksa das Leben Einzelner, die damals innerhalb des Landes oder ins Ausland geflüchtet waren und von deren Schicksalen in der öffentlichen Debatte nie die Rede ist, eigentlich beeinflusst? Wie prägten politische Ereignisse, die mit individuellen und kollektiven Emotionen geladen waren, sie selbst und die verschiedenen Aspekte ihres Lebens, wie Liebe und intime Beziehungen? Inwiefern beeinflussten sie vielleicht sogar ihre Sicht auf diese Beziehungen und speziell die Liebe zwischen zwei Menschen, ob Frau und Mann, Frau und Frau oder Mann und Mann? Ich hatte mich damals auf die Nakba und Naksa konzentriert, die die Region stark geprägt und unweigerlich Einfluss auf das Leben vieler Menschen genommen haben und es bis zum heutigen Tag tun. Aber es waren zwei Ereignisse, die ich und meine Generation nicht direkt miterlebt haben und die wir deshalb nur aus Geschichten und Erinnerungen von Großeltern und Verwandten kennen oder über die wir aus verschiedenen anderen Quellen gelesen haben.
Aber was ist mit den Ereignissen, die wir direkt miterlebt haben? Seit 2011 sehen wir politische Veränderungen, die sich auf Körper und Seelen auswirken; auf die Körper und Seelen derer, die wir lieben. Der Ausbruch der Revolutionen in der arabischen Region, jener Neuanfang, der erfüllt war von Hoffnung, wie wir sie zum ersten Mal verspürten, veränderte vieles in unserem Leben, auch wenn wir weit weg von Tahrir Platz und Habib Bourguiba Avenue lebten. Aus Hoffnung wurde manchmal Liebe und manchmal Freundschaft oder Partnerschaft. Doch auch der Verlust der Hoffnung nach nicht allzu langer Zeit und die schnellen, katastrophalen Umwälzungen in der Region hinterließen unvermeidliche Spuren auf engen Beziehungen und Liebesgeschichten und sogar auf unserem Verständnis von Liebe – positive und negative.
Für diesen Artikel unterhielt ich mich mit Frauen und Männern, die die Revolutionen und deren Folgen für die Region, vor allem auf politischer Ebene, miterlebt haben, die freiwillig oder gezwungenermaßen auswanderten oder doch in ihren Ländern blieben. Wir sprachen über das Verhältnis von Politik und Liebe, Revolution und Liebe und über all das, was auf unsere Herzen, Gefühle und Beziehungen Einfluss nimmt.
„Niederlage bringt das Schlimmste im Menschen hervor“
(Fr. Dr.), 33 Jahre aus Ägypten: „Vor der Revolution lebte ich ein normales Leben. Ich ging eine traditionelle Ehe ein, brachte zwei Kinder zur Welt, einmal die Woche besuchten wir die Familie. Dinge, die man in einer ganz gewöhnlichen Familie der ägyptischen Mittelklasse macht. Ich hatte schon seit der Universitätszeit aufrührerische Tendenzen, die ich aber nur in sehr begrenztem Rahmen auslebte. Nach dem Ausbruch der Revolution und dem Tod Khalid Saids begann ich jedoch alles genau zu verfolgen und wollte an allem, was passierte, teilhaben. Aber dann entdeckte ich die negativen Seiten meines Mannes, der sich aus allem heraushalten wollte, der Angst hatte und die Bedeutung der Ereignisse nicht erkannte. Er interessierte sich weder für soziale Gerechtigkeit noch für die Forderungen der Menschen. Da merkte ich, wie unterschiedlich wir waren und dass ich mein Leben nicht länger mit dieser Person verbringen konnte. Die Revolution beeinflusste die Frauen Ägyptens in vielerlei Hinsicht. Ich für meinen Teil konfrontierte meine Familie damit, dass ich das Kopftuch nicht mehr tragen wollte und nun in ihrer Gegenwart Zigaretten und Wasserpfeife rauchte. Ab einem bestimmten Moment habe ich einfach gespürt, dass wir so nicht mehr weitermachen konnten, dass wir aus zwei unterschiedlichen Welten kamen und ich mein Leben so weiterführen musste, wie ich es wollte. Das geschah gleichzeitig mit dem, was ich den revolutionären Orgasmus nenne. Er manifestierte sich darin, dass der einzelne Mann heroisiert und bewundert wurde und seine Schwächen unbeachtet blieben. Er legt sich mit den Sicherheitskräften an, verteidigt irgendjemanden und du entfliehst auf den Demonstrationen an seiner Seite dem Tränengas. Dieser Orgasmus dauerte bis zur Zerschlagung und Niederlage der Revolution. Diese Niederlage öffnete uns wieder die Augen für die Schwächen der anderen, die schon immer da gewesen, aber für uns im Moment der Revolution und Hoffnung nicht sichtbar gewesen waren. Dieses Scheitern und Versagen hatte Auswirkung auf mein ganzes restliches Leben. Während des revolutionären Orgasmus hatte ich einen anderen Mann kennengelernt, wir hatten innerhalb von drei Monaten geheiratet und unter dem Gesang revolutionärer Lieder und Parolen Hochzeit gefeiert; ich hatte meine Familie konfrontiert; hatte ein drittes Kind gezeugt“. Sie fügt schließlich hinzu: „Vielleicht hätte ich, wenn wir zusammengezogen und uns nähergekommen wären, erkannt, dass der Heroismus aus Papier war, nicht real, manchmal vorgetäuscht, ob bei ihm oder irgendeinem anderen. Niederlage bringt das Schlimmste im Menschen hervor.“
„Liebe ist zu etwas fremdartigen geworden“
(M.), 34 Jahre aus Ägypten, beantwortet die Frage, wie die politische Realität Ägyptens sich auf seine intimen Beziehungen und Sicht auf die Liebe ausgewirkt hat, folgendermaßen: „Ohne Zweifel sind wir durch unsere Einbindung in die Realität auch ihren Einflüssen in jeder Hinsicht ausgesetzt, ob bewusst oder unbewusst. Manchmal ähnelt diese Einbindung in die Realität und ihre Ereignisse einer Verwicklung, wie im Fall des revolutionären Traums in Ägypten oder sogar schon bei unserem Umgang mit der großen seelischen Variablen, die den Ereignissen von 2011 innewohnte. Natürlich interessiere ich mich nicht für die Auswirkungen auf andere, mit denen ich nichts gemeinsam habe. Die Wahrheit ist, ich kann – ganz ehrlich – sagen, dass ich mich nur für mich selbst interessiere. Selbst diejenigen, die mir ähneln oder die zu dem gehören, was man meine Gemeinschaft nennen könnte – nach den Ereignissen war ich an ihren Schicksalen nicht mehr so interessiert wie vorher“. (M.) sagt weiter: „Der enorme Wandel in meiner Beziehung zu meinem Umfeld, meiner Familie und zur Gesellschaft im Allgemeinen war auf allen Ebenen offensichtlich, angefangen bei kurzen Romanzen, die aus kurzweiligen Gefühlen von Bewunderung und gegenseitigem Verstehen hervorgingen bis hin zur Ehe. Früher war ich eine Person, die sich sehr für die Welt interessierte und komplett involviert war. Eine einfache Situation oder Begebenheit konnte meinen kompletten Plan umwerfen und meine Energien auf eine Peron, die ich liebte oder dir mir wichtig war, umleiten. Aber nach der Niederlage unseres Traums oder der Erkenntnis der Absurdität unserer Realität, in der Niederlage zu etwas völlig Normalem, Alltäglichen geworden ist, trat eine Veränderung ein, dessen Ausmaß ich vielleicht noch nicht begriffen habe. Oder vielleicht bin ich auch geschlagen genug, um die Niederlage zugunsten des Materiellen, Faktischen hinzunehmen, die sich im Wandel der Beziehungen hin zu rein materieller Präsenz und physischer Ausübung gezeigt hat. Dieser Wandel zeigt sich darin, dass wir sehr viel mehr Platz den kurzzeitigen, meist rein sexuellen Beziehungen einräumen, als wäre Sex der einzige Weg sicherzugehen, dass man existiert; auf irgendeine materielle Weise existiert. Dabei ist Liebe zu etwas so fremdartigen geworden, dass sie weder diskutiert werden, noch passieren kann. Sie steht im Gegensatz zur Eindeutigkeit von Sex. Liebe wurde deformiert als etwas, das Teilnahme erfordert. Nachdem in der Januar-Revolution aber die Teilnahme scheiterte, erschien Sex, besonders in einer so rückständigen Gesellschaft, als etwas sehr Greifbares, als ein eigennütziger Akt, bei dem jeder den anderen Partner nur zu seinem eigenen Vorteil benutzt, ungeachtet dessen, dass gegenseitiges Verstehen diesen Vorteil schöner machen könnte.“
Während ich diesen Artikel schrieb, schickte mir ein syrischer Freund aus Berlin eine gemeinsame Antwort von sich und jemandem, der gerade bei ihm war, über WhatsApp. Die Nachricht lautete knapp: „Wir sind alle unfähig zu lieben.“
„Wir haben alles verloren“
In diesem Sinne antwortete auch (A.) aus Syrien: „Die Liebe ist ein Bild und ein Bild bedeutet Stabilität. Stabilität bringt Ruhe und diese ist wiederum eine Notwendigkeit für die Liebe. Würde in allen Regionen Liebe entstehen, dann wäre sie zwar von einem Ort zum anderen unterschiedlich, das Wesentliche aber wäre überall gleich. Wenn in diesem Land Leidenschaft entsteht, dann gingen seine Details in einem gefährlichen Wirbelwind verloren. Auch wenn die einzelnen Details unwichtig sind, geht der Kompass für die Liebe doch verloren. Wir wissen nicht mehr, wer wir sind und was wir wollen. Die Geräte unserer Suche haben sich verändert. Wenige halten an der alten Form der Liebe fest, wie sie sie in Syrien erlebten. Doch da die Mehrheit mit den Veränderungen in ihrem Umfeld auch die neuen Formen der Liebe angenommen hat, die jeder einzelne aus seiner neuen Perspektive sieht, sind oft diejenigen die Opfer, die der alten Form der Liebe anhaften.“
(Z.), 33 Jahre aus Syrien, gab auf die Frage nach dem Einfluss der politischen Wirklichkeit in Syrien auf intimen Beziehungen und Liebe die folgende Antwort: „Die Umwälzungen seit 2011 bis heute haben sich stark auf mich als Syrerin und meine emotionalen Beziehungen ausgewirkt. Davon bin nicht nur ich allein, sondern die gesamte Gesellschaft betroffen. Zuvor existierende Konstanten zerbrachen. Alles zerbrach, als wir das Land verloren und die halbe Welt zu Flüchtlingen wurde, als die Orte, die wir einst besuchten, verschwanden, als Erinnerungen für immer gelöscht wurden. Mit der Revolution verbinden wir Gefühle des Zusammenbruchs und Verlusts. Die Revolution war nicht nur eine politische, sondern vielmehr auch eine emotionale, eine Revolution aller Formen. Wenn du merkst, dass du alles verloren hast, dann kannst du dich nicht länger an Konstanten festhalten, denn diese sind wie eine zusammenhängende Kette gemeinsam umgefallen. Alles hat sich verändert. Du musst nicht mehr in einer Beziehung bleiben, wenn diese nicht glücklich ist, denn du verlierst eh nichts, wenn die Beziehung endet – du hast schon alles verloren“. (Z.) fährt fort: „Häufig mussten wir uns der Angst widersetzen: waren gezwungen, an fernen, uns völlig unbekannten Orten Neuanfänge zu wagen, ganz auf uns allein gestellt, mussten die Vergangenheit und alles Alte hinter uns lassen, auch alle damit verbundenen intimen Beziehungen. Nur so konnten wir einen starken Neuanfang schaffen. Trotz alledem und obwohl die Menschen den arabischen Frühling mittlerweile Herbst oder Winter nennen, sehe ich die Revolution immer noch als einen Frühling, denn Wandel war unumgänglich. Stagnation auf politischer, aber auch kultureller und emotionaler Ebene, ist das Schlimmste, was wir erreichen können. Ich war zehn Jahre lang verheiratet und dachte, dass diese Entscheidung eine endgültige war. Aber als alles zerbrach, verstand ich, dass sie es nicht war und dass der Mensch stark sein muss um sich weiterzuentwickeln und das Leben zu dem zu machen, was es sein soll. Wenn dieses Leben zu schwer ist um es zu leben, dann muss eine grundlegende Veränderung her. Das ist auch der Grund, warum viele Frauen sich zur Trennung oder Scheidung von Beziehungen entschieden haben, die sie zuvor für ewig gehalten hatten“.
Fortsetzung folgt…
Als ich darüber nachdachte, mich mit dieser Frage ein wenig aufs offene Meer zu begeben, erwartete ich ehrlich gesagt keine „positiven“ Ergebnisse. Inspiration für die Frage erhielt ich im Gespräch mit Freunden und Freundinnen, besonders aus Syrien und Ägypten, die zwangsweise oder freiwillig in der deutschen Hauptstadt, Berlin, wohnen. Wir hatten viele Fragen über Liebesgeschichten und intime Beziehungen, jene vergangenen und jene, wie es sie heute nur noch selten gibt. Mit dem Wissen, dass die Forschungsfrage einen weiteren und tieferen Rahmen verdient, als es dieser Bericht zulässt, hoffe ich doch dass er erste Einblicke gewährt, wie sich Verlust auf den Ort auswirken kann, der für uns eigentlich der sicherste sein soll: Liebe.
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