Ein wichtiges Ergebnis der #MeToo Bewegung war die Verbreitung des Begriffs „Konsens“. Was bedeutet der Begriff? Und wie manifestiert er sich in unseren komplexen Beziehungen und deren Dynamiken?
Aus dem Arabischen übersetzt von Jana Duman.
Zwar scheint das Jahr 2017 jetzt weit weg zu sein, doch als Beginn der „Me too“‑Bewegung fand es Eingang in unser kollektives Gedächtnis. Was in Hollywood mit den Namen der großen Produzenten, Schauspieler und Regisseure begann, erreichte auch den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Schließlich sprachen etliche Frauen aus aller Welt über ihre persönlichen Erfahrungen mit sexueller Belästigung und sexueller Gewalt. Dazu nutzten sie vor allem die virtuellen Räume des Internets. Auch diejenigen Mädchen und Frauen, die sonst keine Rolle im öffentlichen Diskurs spielen, konnten hier ihre Geschichten anonymisiert mit der Welt teilen.
Ein wichtiges Ergebnis der #MeToo‑Bewegung war die Verbreitung des Begriffs „Konsens“. Der Begriff meint die Zustimmung der betroffenen Parteien zu jeglicher Initiative oder Handlung mit sexuellem oder amourösem Bezug. Erfahrungsberichte wurden öffentlich geteilt und plötzlich konnten alle selbst überprüfen, ob die sexuellen Handlungen mit Einwilligung erfolgten oder nicht. Es wurde möglich offenzulegen, was Konsens in unseren Beziehungen und deren komplexen Dynamiken bedeutet. Das Ergebnis dieser Verbreitung aber war ein zweischneidiges Schwert. Denn es kam das Bedürfnis auf, den Begriff zu vereinfachen, was zu seiner Reduzierung führte.
Die Trivialisierung von "Konsens" geschah im Kontext der Trivialisierung zahlreicher feministischer Begriffe. Da wir wollen, dass die feministischen Ideen alle Menschen erreichen, müssen wir einige Begriffe reduzieren und sie von ihrer Komplexität befreien. Das geschah auch mit dem Begriff "Konsens". Wenn wir gefragt werden: „Was ist Konsens?“, dann wollen wir mit einem einfachen Satz antworten, den wir ohne viel Nachdenken vorbringen können.
Konsens ist ein kontinuierlicher Prozess. Eine Entscheidung kann jederzeit zurückgenommen werden.
Lasst uns mit einigen Selbstverständlichkeiten anfangen: Der (sexuelle) Konsens ist die Zustimmung der betroffenen Parteien zu einer bestimmten sexuellen Praxis. Doch diese Zustimmung ist keine Eintrittskarte, mit der man sich Anspruch auf das versprochene Erlebnis sichert. Stattdessen muss die Zustimmung kontinuierlich bestätigt werden, und diese Bestätigung lässt sich nicht roboterhaft automatisieren. Wenn beispielsweise der Abend mit einer Art impliziter Übereinkunft darüber beginnt, dass er mit Sex enden wird, dann bedeutet das nicht, dass wir nicht noch einmal eine Rückversicherung benötigen, dass das Gegenüber nach wie vor einverstanden ist, bevor wir Sex haben. Unsere Stimmungen verändern sich, wir werden müde und wir können unsere Zustimmung in einem Moment formulieren und sie zu späteren Zeitpunkten wieder zurücknehmen. Das kann ärgerlich sein, zumal wir uns engagiert haben: Wir haben geredet und geflirtet und uns auf das Happy End vorbereitet. Jedoch müssen wir uns darüber bewusst sein, dass die andere Person nicht dazu verpflichtet ist, unsere Wünsche zu erfüllen, wenn sie nicht in der Stimmung oder in der Lage dazu ist. Sie kann seine/ihre zuvor erklärte Zustimmung zurückziehen.
Konsens ist ein andauernder Prozess, der aber nicht bedeutet, dass wir jede halbe Minute nachfragen, ob der oder die andere weitermachen möchte. Vielmehr bedeutet es, dass wir verstehen, dass seine/ihre Rücknahme einer implizit oder explizit getroffenen Vereinbarung eine normale, aushaltbare und berechtigte Sache ist. Zudem müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass Sex etwas sehr Spontanes ist, das immer unbeschwert möglich ist. Vielen Menschen ist aus unterschiedlichsten körperlichen, psychischen und sozialen Gründen die Möglichkeit eines spontanen Geschlechtsverkehrs nicht vergönnt. Sie gehen mit vielen Vorsichtsmaßnahmen vor und während des Geschlechtsverkehrs vor. Sex hält einen Stopp, eine Rückversicherung, ein Hören auf Stimme und Körper ebenso aus wie den Glauben an das Recht aller Beteiligten, sich jederzeit zurückzuziehen.
Konsens beschränkt sich nicht allein auf den Geschlechtsverkehr, sondern umfasst auch seine Bedingungen. Denn Sex ist eine intime Beziehung, die viel Aushandlung beinhaltet; beispielsweise das Aushandeln über die Verwendung eines Kondoms oder von Verhütungsmitteln. Wir müssen nicht jedes Mal, wenn wir Sex haben, unsere gesundheitliche Situation preisgeben. Aber wir haben die Verantwortung, die andere Person zu schützen. Ebenso haben wir die Verantwortung, uns selbst zu schützen. Daher ist es wichtig, dass die betroffenen Parteien sich bei der Aushandlung dieser Fragen wohlfühlen, und dass sie keine Scheu haben, anzusprechen, wie der Akt angenehmer für sie wäre. Gemeint ist beispielsweise die Verwendung von Gleit- oder Feuchtigkeitsmittel zu fordern, oder ein Sexspielzeug miteinzubeziehen. All diese Dinge erfordern, dass wir unsere Wünsche kommunizieren und die Wünsche des oder der anderen berücksichtigen. Andernfalls schaden wir unwillkürlich dem, wozu wir unsere Einwilligung gegeben haben. Und das bedeutet nicht weniger Gewalt als der Zwang zu einer bestimmten Praxis.
Konsens umfasst alles, was wir lieben, wozu wir Lust haben, was wir ausprobieren möchten, sowie alles, womit wir uns überhaupt nicht wohlfühlen.
Konsens ist keine Eintrittskarte, die wir durch unseren Eintritt in eine Beziehung erworben haben. Denn manchmal verspüren wir keine Lust auf Sex oder sind einfach nicht in der Stimmung. Die offene Kommunikation in unseren Beziehungen verhindert, dass wir in innere Konflikte oder ewige Zweifel abtauchen und uns überlegen, ob wir die andere Person verloren haben, wenn wir einmal keine Lust auf Sex hatten. Konsens bezieht sich auch auf die Details dieser Praxis. Konsens umfasst alles, was wir lieben, wozu wir Lust haben, was wir ausprobieren möchten, sowie alles, womit wir uns überhaupt nicht wohlfühlen. Über diese Dinge zu sprechen, erleichtert uns die Konsensfindung. Denn so lässt sich ein „Nein“ oder ein „Ja“ einfacher aussprechen.
Wir wissen, dass Konsens selbst in emotionalen Beziehungen mit langfristigen oder gesellschaftlichen Verpflichtungen flexibel ausgelegt wird, und dass Vergewaltigungen in der Ehe tatsächlich und häufig geschehen. Genauso glauben wir, dass eine Eheschließung die Vergewaltigung in der Ehe weder legitimiert noch verharmlost. Dasselbe muss für inoffizielle Beziehungen gelten. So öffnen wir den Raum für diejenigen, die außerhalb der Institution Ehe in Beziehungen leben (homosexuell, bisexuell oder andere) und ermöglichen ihnen, über Gewalt in diesen Beziehungen zu sprechen, anstatt aus Scham zu schweigen.
Wenn wir über Konsens reden müssen wir auch berücksichtigen, inwieweit wir bei klarem Bewusstsein sind, wenn wir „Ja“ oder „Nein“ sagen. Viele Personen zeigen sich für ein sexuelles Abenteuer eher offen, wenn sie Alkohol oder Drogen zu sich genommen haben. Es erleichtert es, die Initiative zu ergreifen. Aber es ist wichtig, auf den Zustand des Gegenübers zu achten, denn Trunkenheit und Drogeneinfluss bringen uns in eine schwierige Situation. Wir haben größere Angst vor Ablehnung und fühlen uns getrennt von unseren Körpern. Wir spüren, dass wir unfähig sind, uns selbst zu verteidigen und Anbahnungen abzuweisen. Wenn ich selbst nicht mehr weiß was ich will, wie soll ich dann darauf vertrauen, von der anderen Person in diesem Zustand eine Zustimmung einholen zu können?
Konsens und Machtverhältnisse in Beziehungen
Ein Aspekt der Trivialisierung des Begriffs will Konsens als eindeutige, begeisterte Zustimmung der betroffenen Parteien zu einer bestimmten sexuellen Praxis verstehen. Es ist schön, sich vorzustellen, alle unsere sexuellen Erfahrungen verliefen voller Begeisterung. Aber bedauerlicherweise ist die Realität viel komplexer. Was machen wir denn mit unseren Erfahrungen mit Partner*innen, die wir schon so lange kennen, dass der Sex mit ihnen nicht zwangsläufig jedes Mal Begeisterung auslöst? Wo ordnen wir unsere Geschichten über Sex ein, den wir nicht aus Verlangen haben, sondern weil wir beispielsweise die andere Person nicht verlieren wollen? Was ist mit den Sexarbeiter*innen, die nicht allen Kund*innen Begeisterung vorspielen möchten? Ordnen wir all diese Erfahrungen entsprechend der vorherrschenden Interpretation unter der Überschrift „kein Konsens“ ein?
Wenn wir diese Fragen beantworten wollen, müssen wir den Begriff "Konsens" wieder komplexer denken und zulassen, dass er sich je nach Kontext flexibel anpasst. Das Erste, was mir in den Sinn kommt, sind die Dynamiken der unterschiedlichen Beziehungen mit ungleichen Machtverhältnissen gibt. Die zwei in diesem Kontext meistgenannten Faktoren sind das Alter und Arbeitsbeziehungen. In Kontexten, in denen die Heirat Minderjähriger vor dem Gesetz gestattet ist, liegt es in unserer Verantwortung, stets auf das Alter der Individuen in einer bestimmten Beziehung hinzuweisen. Denn bei einer Beziehung zwischen einem minderjährigen Mädchen und einem volljährigen Mann können wir davon ausgehen, dass eine echte Einwilligung nicht vorliegt, da Minderjährige nicht um ihre Zustimmung zu einer solchen Beziehung gebeten werden. Also entziehen wir sämtlichen minderjährigen Frauen die Verantwortung für ihr Handeln, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Kontexte.
Das legitimiert natürlich unseren Kampf und hilft uns dabei, öffentliche Kampagnen gegen die Verheiratung Minderjähriger zu starten. Das Problem dabei ist aber, dass wir andere Faktoren kaum wahrnehmen wenn wir nur den Altersunterschied sehen. Wir vernachlässigen dadurch die Arbeit an den tatsächlichen Problemen: Was veranlasst ein minderjähriges Mädchen, sich an einen erwachsenen Mann zu binden? Was bringt eine Familie dazu, ihre minderjährige Tochter gegen ihren Willen zu verheiraten? Es geht um ökonomische Faktoren und den sozialen Druck auf die Mädchen, zu heiraten. Es geht um das Nichtvorhandensein von Schutz- und Unterstützungsstrukturen, und darum, dass diejenigen, die eine Beziehung ohne Einwilligung eingehen, ihrer Situation entfliehen können. Wir wenden uns von der Analyse und Verbesserung all dieser Umstände ab, wenn wir den Begriff "Konsens" zu eng definieren.
Im Kontext von Arbeitsbeziehungen sei das Beispiel einer Frau genannt, der eine Vertragsverlängerung oder die Verbesserung ihrer Arbeitssituation versprochen wird, wenn sie mit ihrem Vorgesetzten schläft. Bei der verengten Definition von "Konsens" kann hier keine Zustimmung gesehen werden. Der Akt würde als Missbrauch oder Vergewaltigung eingestuft. Und ich spreche hier von einem Vorfall, bei dem die Frau nicht gezwungen wurde. Vielmehr wurde sie verführt mit Dingen, die sie benötigte. Diese Situation tritt vielfach und in unterschiedlichsten Formen und Umständen in Erscheinung. Es ist einfach, das als sexuelle Gewalt zu bezeichnen. Und es ist einfach, der betroffenen Frau die Verantwortung für ihr Handeln abzusprechen und sie mit jemanden zu vergleichen, der zu einer Entscheidung gezwungen wurde. Aber dennoch hatte sie einen gewissen Spielraum, die Entscheidung zu treffen, nicht nachzugeben und ihre Arbeit zu verlassen. Oder sie hatte die Option, nachzugeben um bestimmte Privilegien zu behalten. Der Faktor, der sie hierzu zwingt, ist eher materiell als dass er mit Arbeitsbeziehungen zusammenhängt. Die Situation ist unangenehm und ärgerlich, ja abstoßend, erinnert sie uns doch an unsere sklavische Abhängigkeit vom Lohn, den wir für unsere Arbeit erhalten und der uns dazu zwingt, in komplexe, interessengeleitete Beziehungsgeflechte einzutreten. Das ist meines Erachtens ein wichtiger Faktor, der analysiert werden muss. Wünschenswert wäre eine Politik, die sexuelle Belästigung im Büro stärker ahndet und überwacht. Dabei gilt es, sexuelle Erpressung als echte Gefahr für viele Personen zu benennen. Zu oft wird den Opfern die Verantwortung dafür zugeschoben, dass sie in einen gewaltsamen Kreislauf der Erpressung hineingeraten sind.
Sex löst nicht immer Begeisterung aus. Sex kann öde und ermüdend sein.
Kehren wir zurück zum Sex mit Einwilligung, der überwiegend so definiert wird, dass er von offener Begeisterung getragen wird. Ich finde diese Definition von Sex unpräzise, ja unrealistisch. Denn Sex löst nicht immer Begeisterung aus. Sex kann öde und ermüdend sein. Er kann allein aus dem Wunsch und der Initiative einer der beiden Parteien entspringen. Und hier spreche ich nicht von Vergewaltigung in der Ehe. Ich rede von dem Sex, den du nicht zwangsläufig geplant hattest oder der dir in diesem Moment nicht in den Sinn kam. Wenn dann aber dein*e Partner*in die Initiative ergreift, denkst du: „Ok, warum nicht?“ Denn Sex muss letztlich nicht von einer fantastischen Aura umwölkt sein. Vielmehr müssen wir ihn als eine normale Praxis behandeln, die mal genussreich und mal langweilig ist. Wir können ihn als „Warum nicht?“ betrachten und wir können uns dazu überwinden, ohne unsere Gefühlslage zu analysieren und ohne aktive Zustimmung zu veräußern. Und hier liegt das Problem.
Geschlechtsverkehr für eine bestimmte Gegenleistung setzt das Konzept von Konsens nicht außer Kraft.
Ein ähnlich komplexes Thema ist der Einfluss von Geld auf die Einwilligung. Wer für Geld Sex hat, wird kaum immer begeisterte Zustimmung zeigen. Denn letztlich ist Sex in diesem Fall Arbeit. Manche Sexarbeiter*innen sagen vielleicht, dass sie ihre Arbeit lieben, so wie ich manchmal sage, dass ich meine Arbeit liebe. Das hat keinen Einfluss auf den Grad ihrer Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit dem Geschlechtsverkehr. Wie also können wir Einwilligung verstehen, wenn dem Geschlechtsverkehr eine Gegenleistung gegenübersteht?
Wichtig ist, dass wir uns nicht von jenen Kampagnen mitziehen lassen, die den Sexarbeiter*innen die Verantwortung für ihr Handeln absprechen und die behaupten, Geschlechtsverkehr gegen Geld könne nicht mit Einwilligung erfolgt sein. Diese Kampagnen gehen davon aus, dass Sexarbeiter*innen keine Alternative haben. Ihnen wird jegliche Entscheidungsmacht abgesprochen. Sie als Opfer von dauerhafter Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch zu sehen, führt dazu, dass wir das Bedürfnis haben, sie vor sich selbst zu retten. Viel wichtiger wäre aber, dass wir uns für die Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten und Schutznetzwerke einsetzen. Geld macht Konsens nicht ungültig. Aber Geld ist es ein bestimmender Faktor in der Entscheidungsfindung. Geld als Faktor anzusehen, der alles ungültig macht, führt den Begriff "Konsens" ad absurdum.
Ich rufe dazu auf, den Begriff "Konsens" zu verbreiten, ohne ihn zu trivialisieren. Er soll komplex verstanden werden. Denn wenn wir annehmen, dass er sonst nicht verstanden würde, unterschätzen wir die Menschen. Wir müssen in den Deutungsversuchen des Begriffs unsere unterschiedlichen und bunten Erfahrungen einbeziehen. Wir müssen betroffene Personen mit einbinden, ohne ihnen die Verantwortung über ihre Körper oder Wahlmöglichkeiten abzusprechen. Denn Konsens bedeutet, eine Wahl zwischen verschiedenen Optionen zu treffen. Die Zustimmung zu einer sexualisierten Praxis können wir besser vor dem Hintergrund von Alter, Gender, Ethnie und Klassenzugehörigkeit analysieren - nicht, um die Betroffenen zu reduzieren, sondern um das Ausmaß der vorhandenen Optionen zu verstehen. Ziel ist es, zwischen unangenehmen Erfahrungen und Erfahrungen mit klarer Verletzung unserer Würde zu unterscheiden. So können auch Erfahrungen, die nicht immer einer Begeisterung entspringen, richtig verordnet werden.
-------Konsens bei „Haki Nisawi“
Um mehr über den Begriff "Konsens" zu erfahren, kannst du dir dieses Video ansehen. Es wurde von Sarah Kadoura in Kooperation mit Jeem zu diesem Thema erstellt und beruht auf ihrem Artikel auf unserer Website. Es ist auf ihrem YouToube-Kanal „Haki Nisawi“ veröffentlicht.
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